Tagungsprogramm Jahrestagung der psychiatrischen Pflege 22.-23. Juni 2023 in Münster

“Lebenswelten im Wandel – Herausforderungen annehmen, Zukunft gemeinsam gestalten”

 

Wir freuen uns ihnen einen Einblick in unser Tagungsprogramm geben zu können und präsentieren stolz unsere Keynote-Speaker.

Das vollständige Tagungsprogramm finden Sie hier 

 Tagungsband zur Jahrestagung der Psychiatrischen Pflege 2023

 

 

 

 

 

 


„Von der Pflege und Begleitung psychotischer Lebenswelten“ Thelke Scholz

Lebensweltorientierung bezieht sich in der Regel auf die Bereiche von Raum, Zeit und Beziehungen, auf den Alltag und dessen Erfordernisse.

In Psychosen oder Psychose-nahem Erleben wird es für die betroffenen Menschen zuweilen schwer – oder unmöglich – sich auf gemeinsame Selbstverständlichkeiten einzulassen – sie leben in ihrer eigenen, persönlichen und exklusiven Realität. Die Anforderungen einer gesellschaftlich erwarteten Alltagsbewältigung sind für sie nicht (mehr) zu verstehen, sie werden nicht (mehr) erkannt, ertragen oder auch aufgekündigt.

Menschen, die in diesem Arbeitsfeld (bei psychiatrischen Hilfen) tätig sind, treffen also unter Umständen auf Personen, deren Lebenswelt nicht mehr eine gemeinsame, sozial geteilte, Welt ist.

Thelke Scholz wird darüber sprechen, wie es sich lebt, wenn „mensch“ an vermeintlich Selbstverständlichen verwirrt und verzweifelt. Sie wird in ihrem Vortrag über Barrieren für Menschen berichten, die von seelischer Krankheit betroffen sind. Diese Barrieren entspringen bisweilen Welten, welche nicht offensichtlich, sondern höchst persönlich, individuell und exklusiv sind. Es kann kaum einen Konsens darüber geben, was die Betroffenen jeweils brauchen, um in der sozial geteilten Realität zurecht zu kommen. Folglich werden in diesem Vortrag auch keine allgemeingültigen Handlungsanweisungen oder Rezepte vorgestellt. Vielmehr soll dieser Vortrag zur Inspiration dienen, Gedanken anstoßen, und zum Austausch einladen.

Thelke Scholz ist bundesweit tätig als EX-IN Trainerin und freiberufliche Dozentin in der Sozialpsychiatrie. Sie ist Mitglied im Vorstand der DGSP, Sprecherin des Fachausschusses Psychopharmaka (ebenda) und Autorin.

Thelke Scholz ist Psychose-erfahren, genesen aber nicht symptomfrei. Sie ist beruflich unabhängig und persönlich zufrieden. Sie ist ein geschätztes Familienmitglied, loyale Freundin und Kollegin, und sie ist ein fröhlicher Mensch.


„Vereinbarungen zur Krisenvorsorge – Welchen Beitrag können psychiatrisch Pflegende leisten ?“ Jacqueline Rixe

Die Diskussion um die Selbstbestimmung des Menschen hat in den letzten Jahrzehnten im gesellschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewonnen und wird über den nationalen Rahmen hinaus z.B. durch Ottawa-Charta und UN-Behinderten-Rechtskonvention auch im Gesundheitswesen rechtlich gerahmt. Um der Selbstbestimmung auch in akuten Krankheitsphasen gerecht zu werden, werden im psychiatrischen Behandlungskontext unterschiedliche Instrumente wie z.B. Odysseus-Verfügungen und Behandlungsvereinbarungen eingesetzt. Als Instrument der Krisenvorsorge hat sich auch der Krisenpass etabliert.

In der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang (DGPPN, 2019) sind Behandlungsvereinbarungen und Krisenpässe aufgrund des hohen Expertenkonsens und der starken Patientenpräferenz mit dem Empfehlungsgrad A, aber aufgrund der inkonsistenten Studienlage nur dem Evidenzgrad 2 aufgeführt. Zudem mangelte es für Deutschland an Evidenz. Die vom Land NRW geförderte ADiP-Studie (ADiP = Advance Directives in Psychiatry) trägt zur Schließung dieser Forschungslücke bei, indem u.a. untersucht wurde, ob Behandlungsvereinbarungen in Bezug auf eine Reduktion von kumulativer, stationärer Behandlungsdauer und von Zwangsmaßnahmen den weniger aufwändigen Krisenpässen überlegen sind (DRKS, 2023). Zudem wurde überprüft, inwiefern sich Patient*innen dadurch aktiver an der Behandlung einbringen und ihren Genesungsweg selbstbestimmt gestalten können.

In dem Vortrag werden die Ergebnisse der Studie (Rixe & Neumann et al. 2023) skizziert, hierbei besonders darauf eingegangen, welchen Beitrag Behandlungsvereinbarungen und Krisenpässe zur Krisenvorsorge leisten können und inwieweit sie Partizipation und Selbstbestimmung fördern. Ein weiterer Fokus des Vortrags liegt auf konkreten Handlungsempfehlungen für Pflegende in unterschiedlichen Versorgungskontexten (ambulant bis stationär), um Menschen mit einer psychischen Erkrankung durch Instrumente der Krisenvorsorge in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Nah am Lebensalltag bzw. der Lebenswelt dieser Menschen können hierbei insbesondere psychiatrisch Pflegende in der ambulanten Versorgung einen wichtigen Beitrag leisten.

Jacqueline Rixe, M.Sc. Gesundheits- und Pflegewissenschaften, B.A. Psychiatrische Pflege, Fachgesundheits- und Krankenpflegerin für psychiatrische Pflege, RN, Beirätin im Vorstand der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
Leiterin des Referats Evidenzbasierte Pflegepraxis im Fachbereich Psychosoziale Medizin, Leiterin der AG Psychiatrische Pflege- und Interventionsforschung
Ev. Klinikum Bethel, Forschungsabteilung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Literatur:

DGPPN (Hrsg.): S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. Berlin: Springer 2019.

DRKS – Deutsches Register Klinischer Studien (2023). Einsatz von Behandlungsvereinbarungen bei psychiatrischen Patienten mit psychotischen Erkrankungen im Rahmen der integrierten Behandlungsplanung und zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen. Zugriff unter:

https://www.drks.de/drks_web/navigate.do?navigationId=trial.HTML&TRIAL_ID=DRKS00013985

Rixe, J., Neumann, E., Möller, J., Macdonald, L.,…, Juckel, G. & Driessen, M. (2023). Joint Crisis Plans and Crisis Cards in Inpatient Psychiatric Treatment – a Multicenter Randomized Controlled Trial. Deutsches Arzteblatt International, Forthcoming.


„DIE PSYCHIATRIE VON MORGEN“ Prof. Dr. Stefan Brunnhuber

Wo liegen die Sollbruchstellen der Psychiatrie von morgen? Sind es die Bettenzahlen, das Forschungsbudget, die Vergütungen, der Personalschlüssel oder die Digitalisierung? Wir leben jetzt in einem anderen Zeitalter, dem Zeitalter des Anthropozäns. Wir als Menschen sitzen nun am Lenkrad und bestimmen die geoökologischen Bedingungen auf diesem Planenten. Und dies ändert fast alles. Die Art wie wir wirtschaften, unsere Kinder erziehen, unsere Ernährungsgewohnheiten und Mobilitätskonzepte und vieles Mehr. Und es änderte auch die Frage wie wir Medizin machen und wie Psychiatrie aussehen soll. Der Vortrag versucht zu zeigen, dass die ökologische, soziale und spirituelle Dimension unseres Fachgebiets an Bedeutung gewinnt. Und dies ändert wiederum (fast) alles, vor allem aber unser traditionelles, mechanistisches und biologisches Grundverständnis unseres Fachgebiets. Psychiatrie wird integraler.

Stefan Brunnhuber ist ein deutscher Autor, Psychiater, Ökonom und Soziologe, der sich aus interdisziplinärer Perspektive mit Strategien für nachhaltige Entwicklungen und Transformationsprozesse beschäftigt. Brunnhuber war von 2015 bis 2019 Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (EASA) und ist derzeit Mitglied im Board of Trustees der Weltakademie der Künste und Wissenschaften (World Academy of Art and Science, WAAS), sowie internationales Vollmitglied des Club of Rome.


“Zwischen (Selbst)Bestimmung und Hilflosigkeit: Entlastung und Unterstützung – auch für die Angehörigen psychisch erkrankter Menschen” Heike Petereit-Zipfel

Mit der Studie, die Heike Petereit-Zipfel im Rahmen ihres Studiums im Fach „Soziale Arbeit/Sozialpädagogik“ 2022 durchführte, wurden Erkenntnisse über den Unterstützungsbedarf von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (ApK) gewonnen Die Daten wurden mittels Online-Survey erhoben. An der Querschnitt-Stichprobe beteiligten sich 1234 ApK.

Die ApK bewerteten die Veränderungen durch die psychischen Gesundheitsprobleme in ihren Familien und ihren Unterstützungsbedarf in Bezug auf körperliche und seelische Gesundheit, soziale Situation, ökonomische Situation sowie sozialrechtliche Fragenstellungen.

Angaben über das Lebensalter der Teilnehmer:innen, ihre Beziehung zur Person mit psychischen Gesundheitsproblemen, deren Diagnose(n) und über die Dauer der persönlichen Mitbetroffenheit wurden erfasst, und werden im Vortrag in Bezug zu den Veränderungen und dem Unterstützungsbedarf gesetzt.

Die außerordentlich hohe Beteiligung am Survey und Details der Ergebnisse zeigen einen komplexen und dringenden Unterstützungsbedarf.

Mit dieser ersten Peer-To-Peer-Studie von ApK in Deutschland, stehen Befunde zur Verfügung, die als belastbares Fundament für die Entwicklung passgenauer, personen- und gruppenbezogener Angebote und Interventionen für Angehörige und Nahestehende von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen, genutzt werden können.

Die Einteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention ist auch für die Entwicklung von Interventionen für ApK eine hilfreiche Orientierung dafür, an welcher Stelle entsprechende Programme oder Angebote in der Kette der Risikofaktoren von „lange, bevor Belastungen in den genannten Bereichen bei ApK auftreten“ bis zu „lange, nachdem die Belastungen sich auf die körperliche und seelische Gesundheit sowie die soziale und ökonomische Situation der Mitbetroffenen ausgewirkt haben“ angesiedelt sind.

Heike Petereit-Zipfel engagiert sich als Mutter von vier Kindern seit 12 Jahren, beruflich und ehrenamtlich, für die Weiterentwicklung sozialpsychiatrischer Hilfen für die ganze Familie. Ihr ältester Sohn lebt mit gravierenden psychischen Gesundheitsproblemen. „Wir müssen uns ohne Schuldzuweisungen, Gerangel um Zuständigkeiten und die Sorge um den Verlust von Macht, darauf konzentrieren, dass Hilfen ineinandergreifen und die Angehörigen und Nahestehenden dabei immer mitdenken“.

Petereit-Zipfel ist stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker (BApK), Vorstandsmitglied in der BAG-GPV, Präsidiumsmitglied der DFPP und arbeitet in diversen weiteren Gremien ehrenamtlich zu sozialpsychiatrischen Themen mit. Beruflich betreibt sie eine Psychosoziale Beratungspraxis im Schwarzwald und gibt verschiedene Kurse zum Thema „Psychische Gesundheit im Lebenslauf“ unter anderem MHFA-Ersthelfer-Kurse für seelische Gesundheit.


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